Raumpatrouille - Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion

Birgit Schindlbeck (Mit freundlicher Genehmigung)


Schwerfällig drehte Tamara sich herum und streckte sich. Irgend etwas hatte sie geweckt - ein leises Klirren. Mit geschlossenen Augen schnupperte sie genießerisch. Der Duft von frischem Kaffee stieg ihr in die Nase. Echter Bohnenkaffee. Sie gähnte und öffnete blinzelnd die Augen.
"Guten Morgen!"
Neben dem Bett stand Cliff, im weißen Morgenmantel, und balancierte vorsichtig ein schwer beladenes Frühstückstablett auf beiden Armen. Jetzt stellte er es weg, beugte sich über den GSD-Leutnant und gab ihr lächelnd einen Kuß auf die Nasenspitze. Tamara räkelte sich wie eine Katze in der Sonne.
"Nanu, Frühstück im Bett? Herr Oberst verwöhnen mich mal wieder maßlos", meinte sie in dem leicht spöttischen Tonfall, den sie immer benutzte, wenn sie Cliff aufziehen wollte.
Der nickte grinsend.
"Alles selbstgemacht", versicherte er.
"Nein! Auch das Geschirr? Wirklich ganz reizend, dieses Muster. Und was, wenn ich fragen darf, ist der Anlaß?"
McLanes Gesicht verdüsterte sich schlagartig.
"Unser letzter Urlaubstag. Morgen muß ich wieder los."
"Die drei Monate sind schon vorbei?"
Tamara war die Zeit wie im Fluge vergangen. Drei Monate - ein Vierteljahr - das schien zuerst eine halbe Ewigkeit zu sein. Drei Monate, in denen sie und Cliff kaum einmal für zwei Stunden getrennt gewesen waren. Und heute war tatsächlich schon ihr letzter gemeinsamer Urlaubstag? Schnell rechnete sie noch mal nach und nickte bedrückt. Es stimmte wirklich.
"Habt ihr schon einen neuen Auftrag?" fragte sie halblaut.
"In Zehn/Ost 365 sind innerhalb der letzten drei Monate drei Schnelle Raumkreuzer verschwunden. Wir sollen nachsehen, was mit ihnen passiert ist."
Cliff kroch wieder unter die Bettdecke und goß sich und Tamara eine Tasse Kaffe ein.
"Klingt interessant."
Zehn/Ost 365. Das waren jeweils neun Tage hin und zurück. Dann noch die Zeit, die die Orion mit der Suche nach den drei Raumkreuzern verbrachte - daraus konnte gut und gerne ein Monat werden. Ein Monat ohne Cliff Allister McLane. Tamara seufzte und griff sich eine Scheibe Toast.
"Es wäre noch interessanter, wenn du mitkommen würdest."
Lange sah der Kommandant der Orion sie an.
"Darüber haben wir doch schon gesprochen, Cliff. Ich will nicht, daß du hingehst und damit drohst, deinen Dienst zu quittieren. Die bringen's fertig und nehmen dich beim Wort."
"Ich kann ja zumindest versuchen, meine lieben Vorgesetzten davon zu überzeugen, daß ich ohne dich einfach nicht auskomme", beharrte McLane, "gleich nach dem Frühstück gehe ich zu General van Dyke. Kommst du mit?"
Tamara nickte ergeben. Sie kannte Cliff zwar erst seit knapp drei Jahren, doch eins wußte sie genau: wenn er sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ er nicht mehr locker, bis er von der Aussichtslosigkeit seines Unternehmens überzeugt war. Und selbst dann gab er nur zögernd auf.

"Tut mir leid, aber das ist ausgeschlossen."
Entschieden schüttelte Lydia van Dyke den Kopf.
"Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, daß alles, was sich an Bord der Orion zwischen Ihnen und Lt. Jagellovsk abspielen würde, rein dienstlich wäre. Und Affären zwischen zwei Besatzungsmitgliedern desselben Schiffes sind genauso verboten, wie Alkohol an Bord."
"Na, dann dürfte es ja eigentlich keine Probleme geben."
Fast flehentlich sah Cliff seine Vorgesetzte an.
Alle drei im Raum wußten, daß McLane und seine Leute es mit diesem Verbot nicht allzu genau nahmen und nach einem überstandenen Abenteuer schon mal zu feiern anfingen, bevor sie wieder auf der Erde waren. Mario hatte immer eine Kiste Whisky mit an Bord.
Bedauernd hob van Dyke die Schultern.
"McLane, es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen Ihren Wunsch nicht erfüllen kann. Ich schulde Ihnen was, immerhin wäre ich jetzt nicht hier, wenn Sie nicht gewesen wären..."
"Dann sorgen Sie dafür, daß Tamara morgen mitfliegen kann", unterbrach McLane sie," Sie könnten wenigstens bei ihrem neuen Chef ein gutes Wort einlegen."
"Das kann ich, aber es wird wohl nicht allzu viel nützen."
"Auch gut, dann werde ich eben so lange meine berühmt-berüchtigten Extratouren drehen, bis ich wieder bei der Raumpatrouille lande und meine Gouvernante zurück bekomme."
Damit drehte Cliff sich auf dem Absatz um und stürmte aus van Dykes Büro. Hinter ihm baute sich die glitzernde Energiebarriere wieder auf, die Unbefugten den Zutritt verwehrte.
Tamara schenkte dem General einen entschuldigenden Blick.
"Sie kennen ihn ja", meinte sie.
Lydia nickte und seufzte.
"Der bringt es fertig und landet tatsächlich wieder bei der Raumpatrouille", sagte sie düster.
Plötzlich sah sie auf.
"Was ist eigentlich mit Ihnen, Leutnant, würden Sie denn nicht gerne wieder mitfliegen?"
"Nun ja..."
Die Sicherheitsbeamtin zögerte kurz.
"Sie kennen ja Cliff. Wer weiß, was ihm alles einfällt, wenn keiner da ist, der ihn ein bißchen zurückhält. Auf die anderen kann man sich da nicht verlassen, die würden für ihn auch durchs Feuer gehen. Er hat zwar immer unheimliches Glück und nach dem, was ich mit Cliff und seinen Leuten erlebt habe, glaube ich auch nicht, daß es irgend etwas gibt, das ihnen wirklich gefährlich werden könnte. Aber wenn Cliff eines Tages doch etwas passieren sollte - ich wäre lieber dabei, statt hier auf der Erde zu sitzen und es von irgend jemandem zu erfahren, den ich wahrscheinlich noch nicht mal kenne. Verstehen Sie, was ich meine?"
Lydia van Dyke nickte.
"Voll und ganz. Wenn man selber dabei ist, dann weiß man, daß man nichts hätte tun können, um es zu verhindern."
"Ganz genau das meine ich. Aber es geht nun mal nicht, da kann man nichts machen."

Am Abend trafen sich Cliff und Tamara mit Helga, Atan und Hasso im Starlight-Casino. Mario würde erst in ein paar Stunden von Chroma zurückkehren.
"Der wird uns ganz schön mit seinen wunderbaren Damen in den Ohren liegen", prophezeite Helga vergnügt, "und Geschichten wird er uns auftischen, daß sich die Hülle der guten alten Orion verbiegt."
"Ja, Sie werden's ganz schön schwer haben, ihn wieder auf den Boden zurück zu bekommen", meinte Tamara.
Die Funkerin sah sie verwundert an.
"Wieso... ach, richtig, Sie kommen ja nicht mehr mit. Eigentlich schade. Gerade jetzt, wo Mario drei Monate lang auf Chroma war, könnte ich ein bißchen Unterstützung gebrauchen."
"Seien sie froh, daß ich nicht mehr dabei bin. Dann haben Sie wenigstens Ihren Commander McLane wieder ganz für sich allein."
"Ach, der!"
Helga winkte ab.
"Der hat doch nur noch Augen für Sie. Hat er denn gar nichts unternommen, um Sie irgend wie an Bord zu kriegen?"
"Oh doch. Er hat General van Dyke den ganzen Tag mit Anrufen bombardiert. Genauso wie Wamsler und meinen neuen Chef. Gebracht hat es ihm allerdings nichts, außer daß die drei dann ab fünf Uhr plötzlich nicht mehr zu erreichen waren. Wahrscheinlich sind sie nach Io geflüchtet."
Tamara versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht so ganz.
Und auch Cliff saß schon den ganzen Abend mit versteinerter Miene am Tisch. Den anderen fiel das natürlich auf. "Sieh sie dir an", flüsterte Atan, als die beiden miteinander tanzten, und stieß Hasso in die Seite.
Der weißhaarige Ingenieur nickte.
"Ich hab's bemerkt. Unser Chef sieht aus, als ob es ihm die Petersilie verhagelt hätte und Genossin Jagellovsk macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter."
"Kann man denn da gar nichts machen?"
Sigbjörnson nahm nachdenklich einen Schluck aus seinem Glas.
"So, wie ich unsere Vorgesetzten kenne, haben die Angst, die beiden könnten sich aus lauter Verliebtheit gegenseitig von ihren Pflichten als Kommandant und Sicherheitsoffizier abhalten", meinte er.
"So ein Blödsinn!"
Empört knallte Atan sein Glas auf den Tisch.
"Doch nicht die beiden!"
"Und außerdem brauchen wir jetzt, wo wir nicht mehr strafversetzt sind, auch keinen Aufpasser mehr an Bord."
Hasso trank sein Glas leer und bestellte sich noch mal das gleiche.
"Also, wenn ich mir Cliff so ansehe, dann seh' ich uns schon wieder in Wamslers Büro stehen", schaltete sich Helga ein, "lebenslänglich Raumpatrouille."
"Was tut man nicht alles, um seinen Chef glücklich zu machen", seufzte Atan.
Helga sagte nichts mehr. Sie verbrachte den Rest des Abends damit, Tamara und Cliff zu beobachten. Je später es wurde, desto gedrückter wurde die Stimmung der beiden. Und der Funkoffizier begann zu überlegen, ob man nicht doch irgend etwas für sie tun konnte. Sie und der GSD-Leutnant waren zwar nicht unbedingt die besten Freundinnen, obwohl seit dem letzten Abenteuer der Orion-Crew zwischen ihnen eine Art Waffenstillstand herrschte. Aber das war eigentlich egal, Helga ging es eher darum, sich und den Rest der Besatzung vor McLanes schlechter Laune zu bewahren. Cliff würde sich zwar Mühe geben, sich nicht an seinen Leuten abzureagieren, aber so ganz würde das nicht klappen. Die schlechte Laune eines Kommandanten schlug sich immer auch auf die Crew nieder.

Am nächsten Morgen trafen sich alle in Basis 104 in der Luftschleuse und warteten darauf, daß sie zu ihrem Schiff durften. Alle außer Tamara. Die war zu ihrem neuen Vorgesetzten zitiert worden.
Wie Helga es schon gestern vorausgesehen hatte, hatte Cliff ausgesprochen schlechte Laune. Er bemühte sich zwar, es nicht zu zeigen, doch die Art, wie er mißmutig vor sich hin starrte und beinahe widerwillig auf die Orion zu schlurfte, verriet ihn.
Dafür strahlte Mario um so mehr. In den höchsten Tönen hatte er ihnen von Chroma vorgeschwärmt, bis Atan ihn angestoßen und mit dem Kinn vielsagend auf McLane gedeutet hatte. Es war inzwischen ein offenes Geheimnis, daß es damals auf Chroma zwischen Tamara und Cliff angefangen hatte. Der Erste Offizier verstand und hielt den Mund - doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schwebte er noch immer im siebten Himmel und würde dort wohl noch eine ganze Weile bleiben.
Alle waren so damit beschäftigt, Cliff zu beobachten, dessen Miene sich immer mehr verdüsterte, daß keinem das gefährliche Glitzern in Helgas Augen auffiel. Der Funkoffizier führte irgend etwas im Schilde. Knapp fünf Meter vor dem Lift blieb sie plötzlich stehen, stellte ihr Bordgepäck auf den Boden und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Ohne Tamara fliege ich nicht", verkündete sie laut und deutlich.
Hasso, Atan und Mario sahen sich verdutzt an.
"Sag' mal, Mädchen, hast du dir den Raumkoller eingefangen, oder was?" wollte der Astrogator fragen.
Er tat es nicht, denn plötzlich machte etwas "klick" und er begriff.
"Ich auch nicht", sagte er und ließ seine Tasche zu Boden fallen.
Es gab einen leisen Knall.
Hasso und Mario grinsten sich an. Wieder einmal herrschte unter der Orion-Crew völliges Einverständnis.
"Sieht ganz so aus, als müßtest du alleine fliegen", rief der Erste Offizier, "wir streiken nämlich. Wenn Genossin Tamara nicht mitkommt, bleiben wir auch hier."
Cliff stand mit offenem Mund da und starrte seine Leute an. Hasso und Mario, die übers ganze Gesicht grinsten, Atan, der aufmerksam seine Fingernägel betrachtete und Helga, die mit blitzenden Augen herausfordernd das Kinn vorreckte. Er war sprachlos.
"Hört mal, Leute," sagte er endlich, "ich finde das ja wirklich sehr nett von euch, aber das könnt ihr nicht machen. Damit kommt ihr nie durch."
"Wollen wir wetten?"
Demonstrativ setzte Helga sich auf ihre Tasche.
"Nun seid schon vernünftig, nehmt eure Sachen und steigt ein."
Cliff fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare. Auch er hatte sein Bordgepäck abgestellt.
Energisch schüttelte der Funkoffizier den Kopf.
"Kommt nicht in Frage. So mies gelaunt, wie du ohne deine Gouvernante bist - entschuldige, aber das wollen wir uns nicht zumuten."
"So, wie du aussiehst, kriegst du doch bei der kleinsten Kleinigkeit eine Tobsuchtsanfall und nimmst das halbe Schiff auseinander."
Mario setzte sich neben Helga und blinzelte McLane gespielt vorwurfsvoll von unten her an.
"Und dann gibt's Tote", fügte Hasso todernst hinzu, während er ebenfalls auf seiner Tasche Platz nahm, "du weißt ja, was passiert, wenn mir einer an meine Maschinen geht."
"Ergo: wir fliegen entweder mit Tamara, oder gar nicht", folgerte Atan.
Etwas ratlos kratzte Cliff sich am Kopf.
"Eine meuternde Crew", murmelte er, "sowas ist mir auch noch nicht passiert."
"Es gibt für alles ein erstes Mal", meinte Helga philosophisch.
"Was ist denn da unten los?" tönte es da aus den Lautsprechern, "wollen Sie denn nicht endlich an Bord gehen?"
In einer hilflosen Geste hob McLane die Arme.
"Ich schon," schrie er, "aber meine Besatzung streikt! Sie wollen nicht ohne Lt. Tamara Jagellovsk fliegen."
"Wo liegt das Problem?"
"Davon" murmelte Helga grinsend "kann Ihnen unser Commander ein Liedchen singen."
Cliff rieb sich nachdenklich das Kinn. Diese Situation war für ihn völlig neu. Seine Leute hatten sich vorher noch nie gegen ihn verschworen - immer nur mit ihm gegen diverse Vorgesetzte. Er konnte die vier ja nicht zum Lift tragen. Am besten war es wohl, General van Dyke zu informieren. Vielleicht auch noch General Wamsler. McLane konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken. Sie hatten Tamara nicht mitfliegen lassen wollen. Deswegen streikte jetzt seine Besatzung. Gut, sollten sich eben seine Vorgesetzten um dieses Problem kümmern.

Eine halbe Stunde später. Tamara stand gerade vor dem Schreibtisch ihres neuen Vorgesetzten. Henryk Villa befand sich noch immer in ärztlicher Behandlung, genau wie alle anderen, die die Frogs vor rund drei Monaten umgepolt hatten, um so die Erde erobern zu können. Villas vorläufiger Nachfolger war einige Jahre jünger, vertrat im Grunde aber die gleichen Überzeugungen, wie sein Vorgänger. Er war ruhig und besonnen, und außerdem ein guter Beobachter.
Er musterte Tamara von oben bis unten, während sie für ihn noch mal in aller Kürze ihre Abenteuer mit der Orion-Besatzung schilderte. Dabei entging ihm nicht, daß sie viel lieber weiter auf der Orion geblieben wäre, als hier auf der Erde. Als sie fertig war, sah er sie eine Weile schweigend an.
"Sie scheinen eine interessante Zeit hinter sich zu haben", meinte er schließlich.
Tamara hob die Schultern.
"Anstrengend war es auf jeden Fall, besonders am Anfang. Aber es hat auch den Vorteil, daß mich jetzt so leicht nichts mehr schrecken kann."
"Sehr gut. Was nun Ihren neuen Aufgabenbereich anbelangt..."
Doch da kam ein Ordonnanzoffizier herein gestürmt. Er blieb bei dem Geheimdienstchef stehen und flüsterte im aufgeregt etwas zu. Tamaras Vorgesetzter sprang auf.
"Was sagen Sie da?" rief er ungläubig.
"Es stimmt, Oberst. Die Nachricht kam von General van Dyke persönlich."
Der Geheimdienstchef eilte mit riesigen Schritten auf den Ausgang zu.
"Kommen Sie, Lt. Jagellovsk, Sie werden gebraucht."
Ein seltsamer Ausdruck lag auf dem Gesicht des Mannes. Es sah fast so aus, als gebe er sich alle Mühe, ein amüsiertes Grinsen zu unterdrücken.
"Gebraucht? Wo denn?"
Tamara kam kaum hinter ihm her.
"Auf Basis 104. Die Orion-Crew streikt. Sie wollen nicht ohne Sie losfliegen."
"Was?"
Die Sicherheitsbeamtin blieb verblüfft stehen.
"Ich wußte doch, daß Cliff irgend welchen Blödsinn macht", murmelte sie kopfschüttelnd, "aber das..."
"Nicht McLane. Der versucht gerade mit Hilfe von General van Dyke und General Wamsler, seine Leute zum Start zu bewegen. Van Dyke hat vorgeschlagen, Sie zu holen. Sie hätten ja bei diesen Leuten schon öfter mal hart durchgreifen müssen."
Und er würde sich dieses Schauspiel auf keinen Fall entgehen lassen.

Es war ein seltsames Bild, das sich den beiden bot, als sie auf Basis 104 den Landeschacht mit der Orion betraten. Hasso, Atan, Mario und Helga saßen zwischen ihren Taschen am Boden. Um sie herum standen Lydia van Dyke, Winston Woodrov Wamsler und Cliff Allister McLane. Letzterer redete gerade wild gestikulierend auf die vier Streikenden ein.
"Leute, die werfen euch glatt raus!" sagte er beschwörend, "dann stehe ich ohne Besatzung da. Was glaubt ihr, wie lange ich brauche, bis eine neue Besatzung so gut aufeinander eingespielt ist, wie ihr es seid. Das dauert doch Jahre."
"Nicht unser Problem", meinte Helga gelassen, "wir fliegen nur, wenn Tamara auch mitkommen darf."
General van Dyke schüttelte den Kopf.
"Sinnlos, die sagen immer nur das gleiche. Lt. Jagellovsk soll mitfliegen."
"Dann gehen wir sofort an Bord", ergänzte Mario.
"Vielleicht sollten wir darauf eingehen?"
Fragend sah Lydia Wamsler an. Doch dem riß nun endgültig der Geduldsfaden.
"Ich lasse mich doch nicht von dieser Bande erpressen! Eine halbe Stunde geht das jetzt schon so! Schicken Sie doch einfach ein anderes Schiff los."
Lydia hob etwas hilflos die Schultern.
"Ich habe im Moment kein anderes, das verfügbar wäre."
"Eine Ersatzcrew?"
"Dann fängt McLane auch noch an zu streiken."
"Ganz genau", bestätigte Cliff trocken.
Mario räusperte sich.
"Nur zu Ihrer Information: wir haben die ganze Nacht Zeit."
"Also, das ist doch..."
Wütend wirbelte Wamsler herum.
"Jetzt hören Sie mir mal zu:" brüllte er, "wenn Sie alle nicht innerhalb von fünf Minuten an Bord sind, dann werde ich..."
"Nicht ohne Lt. Jagellovsk", sagte Atan unbeeindruckt.
Wamsler sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen.
Genau in dem Moment entdeckte Helga Tamara.
"Da ist sie ja!" rief sie und winkte.
"Und ihren neuen Chef hat sie auch gleich mitgebracht", stellte der Astrogator fest.
Van Dyke atmete erleichtert auf.
"Da sind Sie ja endlich! Denken Sie, Sie können McLanes Leute dazu bringen, an Bord zu gehen?"
Die Sicherheitsbeamtin hob die Schultern.
"Versuchen kann ich's ja mal. Aber glauben Sie ja nicht, daß ich nur mal kurz mit den Fingern zu schnipsen brauche, und schon stürmen sie die Orion", meinte sie trocken, "so einfach geht das nicht."
"Worauf warten Sie denn noch?"
Wamsler wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
"Wenn das hier rauskommt..."
Tamara ging zu den Vieren hinüber. Sie stemmte die Hände in die Hüften und bemühte sich, möglichst streng dreinzusehen.
"Hören Sie, ich finde er wirklich sehr nett, daß sie alle nicht ohne mich fliegen wollen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß ich Ihnen so ans Herz gewachsen bin."
"Alles nur wegen Cliff", warf Helga ein, "ohne sie hat er so schlechte Laune."
Mario nickte.
"Nicht auszuhalten."
Ungerührt fuhr Tamara fort: "Aber ich kann nun mal nicht mit, es geht einfach nicht."
"Falsch", verbesserte Atan, "Sie dürfen nicht mit. Das ist ein Unterschied."
Der GSD-Leutnant sah ihn scharf an.
"Wer sagt Ihnen überhaupt, daß ich mitkommen will?"
Helga grinste sie frech an.
"Wir haben ja schließlich Augen im Kopf."
"In Ordnung."
Tamara beschloß, sich auf keine langen Diskussionen einzulassen. Da würde sie den Kürzeren ziehen.
"Hiermit erteile ich Ihnen allen Alphaorder, Ihre Sachen zu nehmen und an Bord zu gehen."
"Natürlich, was denn auch sonst?" flüsterte Mario Atan zu.
Seelenruhig stand Hasso auf, klopfte den Staub von seiner Hose, nahm seine Tasche und ging los, Richtung Ausgang.
"Ohne Tamara fliegen wir nicht", wiederholte er nachdrücklich.
Die anderen drei, die kurz die Luft angehalten hatten, packten schweigend ihre Sachen zusammen und folgten ihm.
"Oh nein, so nicht", murmelte die Sicherheitsbeamtin entschlossen.
Während Wamsler, van Dyke, McLane und der Geheimdienstchef den vier fassungslos nachsahen, griff sie sich Cliffs HM4, änderte blitzschnell die Einstellung und versperrte den Orion-Leuten mit gezogenem Strahler den Weg.
"Wenn Sie nicht sofort an Bord gehen, werde ich Sie alle paralysieren und höchstpersönlich an Bord tragen", sagte sie gefährlich leise und zielte auf Hasso.
Cliff und seine Leute kannten diesen Tonfall. Es war derselbe wie damals, als Tamara gedroht hatte, den Leitstand zu zerstören, wenn McLane versuchen würde, Lydia zu retten.
Der Ingenieur breitete die Arme aus.
"Tun Sie, was Sie nicht lassen können."
Helga, Atan, Mario, alle im Raum hielten gespannt den Atem an. Die Luft zwischen Tamara und Hasso schien zu knistern. Man konnte beinahe die Funken sehen. Hasso sah der Sicherheitsbeamtin direkt in die Augen. Wie ein Felsen im Sturm stand er da. Sie hatte ihn schon einmal mit einem Strahler bedroht, als sie geglaubt hatte, er wäre ein Deserteur. Damals hatte sie nicht geschossen. Aber heute...
Auch Tamara dachte an diesen Vorfall. Sollte sie wirklich schießen? Immerhin wollten ihr die vier doch nur helfen, ihr und Cliff. Aber andererseits, wenn sie nicht klar machte, daß sie es ernst meinte, wie sollte sie die vier an Bord kriegen?
Helga biß die Zähne zusammen.
Wenn sie Hasso niederschießt, spring' ich ihr ins Gesicht, schwor sie sich.
Diese Tamara war einfach unberechenbar.
Cliff wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Das war doch einfach absurd. Da stand Tamara und zielte mit seiner HM4 auf seinen Ingenieur. Das konnte doch nur ein Traum sein!
"In Zukunft fliege ich alleine," murmelte er.
Tamara und Hasso maßen sich weiter mit Blicken. Sie schienen langsam zum Ende ihres stummen Duells zu kommen. Noch stand der Sieger nicht fest.
Du tust es nicht, schien Hassos Blick zu sagen, du kannst es einfach nicht. Sieh es doch endlich ein und lass' mich durch.
Tamara wiederum versuchte ihm die stumme Botschaft zu übermitteln, daß er doch endlich vernünftig werden und an Bord gehen sollte. Denn wenn der erste nachgab, würden ihm die anderen auch folgen. Nur war es beinahe unmöglich, McLanes Crew zum Aufgeben zu bringen.
Mario stieß Atan an.
"Ich wette mit dir um eine Kiste Champagner, daß sie es nicht fertigbringt, auf Hasso zu schießen", flüsterte er.
"Hör mal, ich wette doch nicht, wenn ich weiß, daß ich verliere", gab der Astrogator zurück.
Alle standen sie da, wie zu Salzsäulen erstarrt.
Und dann ließ die Sicherheitsbeamtin langsam den Strahler sinken.
"Ihr seid verrückt", sagte sie kopfschüttelnd, "lassen sich eher über den Haufen schießen, bevor sie aufgeben. Einer verrückter als der andere."
Nun stieß Atan Mario an.
"Daß sie das erst jetzt merkt..."
Die vier gingen weiter.
"Einen Moment mal!" rief Lydia plötzlich.
Sie blieben stehen und sahen den General erwartungsvoll an.
Van Dyke trat mit Wamsler und Tamaras Vorgesetztem zur Seite.
"Was denken Sie," sagte sie leise, "sollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen?"
"Sie meinen, den Forderungen nachgeben und Lt. Jagellovsk nochmal mitschicken?" fragte Wamsler.
Lydia nickte.
"Ich brauche die Orion. Sie kann am schnellsten in Zehn/Ost 365 sein."
"Ich habe nichts dagegen", meinte der Chef des GSD, "ehrlich gesagt, ich finde es bewundernswert, wie diese Leute zusammenhalten. Sowas gibt es viel zu selten."
"Bewundernswert? Reine Sturheit ist das. Alles nur, um uns zu ärgern", meinte Wamsler düster, "glauben Sie, daß das gut geht?"
"Ich vertraue McLane."
Lydia sah ihn fest an.
"Und ich Lt. Jagellovsk."
"Eigentlich habe ich hier ja gar nichts zu sagen, immerhin bin ich nicht mehr McLanes Vorgesetzter."
Wamsler hob die Schultern.
"Aber wenn Sie mich schon fragen, meinen Segen haben Sie."
Van Dyke drehte sich zu den anderen um.
Die vier Streikenden hatten sich um Cliff und Tamara geschart. Der GSD-Leutnant wirkte etwas blaß um die Nasenspitze. "Lt. Jagellovsk," sagte der General förmlich, "wie lange brauchen Sie, um sich umzuziehen und ein paar Sachen einzupacken?"
Tamara atmete auf, während Helga, Atan, Hasso und Mario sich jubelnd in die Arme fielen.
"Zwanzig Minuten!" rief McLane über den Trubel hinweg, "ich helfe ihr dabei."
Er strahlte wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum.
"Na dann machen Sie schon, daß Sie wegkommen", knurrte Wamsler, "bevor wir's uns noch anders überlegen."
Van Dyke wandte sich an die übrigen vier.
"Und Sie sehen zu, daß sie an Bord kommen und die Orion startklar kriegen."
"Zu Befehl!"
Mario salutierte zackig, packte seine Sachen und sprintete zum Lift. Die anderen folgten ihm.
"Und glauben Sie ja nicht, daß Sie mit dieser Methode auch das nächste Mal durchkommen werden!" rief Lydia ihnen hinterher.
"Nur keine Sorge", murmelte Helga, "fürs nächste Mal laß' ich mir was neues einfallen. Sonst wird's ja langweilig."
Mario klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.
"Mit dir an Bord, Helgamädchen, wird's nie langweilig. Und ganz besonders nicht, wenn auch Tamara mit von der Partie ist."

Rund dreißig Minuten später war die Orion VIII startbereit.
Mario schwärmte von Chroma und ließ sich weder von Helgas Sticheleien noch von Atans bissigen Bemerkungen stoppen.
"Wie einen Halbgott haben sie mich dort verehrt", berichtete er mit stolzgeschwellter Brust.
"Ha, ha", machte Helga unbeeindruckt.
"Ich wußte nicht, daß die armen Mädels auf Chroma alle blind sind", meinte Atan, "Halbgott, du meine Güte!"
"Du bist ja nur neidisch."
De Monti ließ sich seine gute Laune nicht verderben.
Hasso war schon vor fünf Minuten in seinen Maschinenraum geflohen.
"Würde der Herr Halbgott sich bitte dazu herablassen, sich auf seine Startposition zu begeben?" fragte Cliff ironisch, "wir Normalsterblichen würden nämlich gerne starten."
"Na, wenn du mich so nett bittest, oh normalsterblicher Kommandant..."
Würdevoll setzte sich der Erste Offizier auf seinen Platz. Helga schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
Tamara beobachtete alles von ihrem Stammplatz aus. Sie lehnte wie immer im Halbdunkel an der Verstrebung beim Leitstand, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein glückliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Noch heute Morgen hatte sie geglaubt, ihre Tage auf der Orion wären vorbei. Und jetzt war sie wieder hier. Zwar nur für diesen einen Auftrag, aber das war egal. Sie hätte nie damit gerechnet, noch mal mitfliegen zu dürfen. Und außerdem: in gut drei Wochen konnte viel passieren.
Auch Cliff war in Hochstimmung. Als seine Vorgesetzten beschlossen hatten, Tamara mitkommen zu lassen, wäre er ihnen am liebsten um den Hals gefallen. Doch für einen Commander McLane - einen Oberst! - gehörte sich sowas nicht. Und alles nur, weil seine Leute mal wieder zusammengehalten hatten.
"Ich schulde euch was, Leute", murmelte er.
"Was bitte?"
Atan sah ihn fragend an.
"Ich habe gerade gesagt, wenn wir wieder zurück sind, geb' ich eine Party", meinte Cliff.
"Eine Party?"
Helga horchte auf.
"Und aus welchem Anlaß?"
"Einfach nur so, weil mir eben danach ist."
"Aha."
Die Funkerin und der Astrogator wechselten einen vielsagenden Blick.
"Was 'aha' ?" fragte McLane mit gerunzelter Stirn.
Da räusperte sich Mario.
"Halbgott an Normalsterbliche: wie wär's, wenn wir endlich starten? Wir halten hier den ganzen Verkehr auf. Oder muß unsere Dame vom GSD erst wieder Alphaorder erteilen, damit sich hier endlich was tut?"
Zur gleichen Zeit meldete sich die Abflugkontrolle: "Basis 104 an Schnellen Raumkreuzer Orion VIII. Sagen sie mal, wollen Sie hier übernachten, oder was? Ihr GSD-Leutnant ist doch jetzt an Bord, also starten Sie endlich."
"Ist ja schon gut, wir starten ja schon!"
Zehn/Ost 365, zwölf Tage später. Drei Tage lang suchte die Orion-Crew mittlerweile schon nach den verschwundenen Schiffen. Seit drei Tagen ohne Erfolg: die Raumkreuzer waren spurlos verschwunden.
"Das gibt's doch nicht."
McLane schüttelte ratlos den Kopf. Er stand beim Leitstand und betrachtete das Bild, das die runde Scheibe zeigte. Silberne Lichtpunkte vor schwarzem Hintergrund.
"Atan, kannst du wirklich nichts finden?"
"Nichtmal das kleinste Staubkörnchen", versicherte der Astrogator.
"Aber irgendwas muß doch zu finden sein", meinte Tamara, die neben Cliff stand, "ein Raumkreuzer verschwindet nicht einfach spurlos. Sogar, wenn die Schiffe zerstört worden sind - wir müßten doch zumindest ein paar Trümmerstücke finden."
"Es sei denn, die Waffe, die die Raumkreuzer zerstört hat, war so stark, daß nichts übrig geblieben ist", gab Helga zu bedenken.
"Ja, aber wer kann schon so eine Waffe bauen?" meinte Mario, "außer vielleicht die Frogs."
Atan winkte ab.
"Von denen haben wir doch schon seit Monaten nichts mehr gehört. Seit dieser mißglückten Invasion."
"Na und? das heißt nicht, daß sie nicht wieder kommen."
"Mario hat recht", stimmte Cliff zu," wir sollten auf jeden Fall damit rechnen, hier auf die Frogs zu stoßen. Wenn wir auf alles vorbereitet sind..."
"Cliff, da ist was!" rief Atan plötzlich aufgeregt.
Genauso plötzlich wurde die Kommandokanzel in ein blendend weißes Licht getaucht, das immer heller wurde. Die Besatzung hielt schützend die Arme vors Gesicht, doch das nützte nicht viel.
Hasso sah auf seinem Bildschirm, was oben passierte. Er wollte aufstehen und seinen Freunden zu Hilfe eilen, doch da erreichte das Licht auch den Maschinenraum. Er sackte in seinen Sessel zurück.
Eine Atomexplosion! konnte Helga noch denken, bevor sie als erste das Bewußtsein verlor.
Cliff hielt am längsten durch. Er versuchte, zu Tamara zu kommen, doch es war so hell, daß er nichts erkennen konnte. Mit der rechten Hand tastete er über den Boden. Irgendwo hier mußte sie doch sein, sie hatte ja genau neben ihm gestanden.
Das letzte, was er zu sehen glaubte, waren schattenhafte Gestalten, die aus dem Lift kamen. Dann wurde auch er bewußtlos, die Hand nur zentimeterweit von Tamaras linker Schulter entfernt.

Weiß. Das war alles, was Helga sehen konnte. Nur weiß, sonst nichts. Im ersten Moment dachte sie schon, sie wäre blind geworden, oder irgendwo im Schnee verloren gegangen, doch dann bemerkte sie, daß sie nur die Decke in einem Raum anstarrte. Und die war weiß.
Wo bin ich ? Was ist überhaupt passiert? In Ordnung, mal ganz langsam... Sie lag in einem Bett, soviel stand schon mal fest. In einem ziemlich unbequemen Bett. Also war sie schon mal nicht in ihrer Kabine auf der Orion. Nur wo war sie dann?
Um sich herum hörte sie allerhand merkwürdige Geräusche, es piepste und klickte überall. Und es roch seltsam. Irgendwie nach Krankenhaus.
Strahlungsverbrennungen, war das erste, was Helga dachte.
Das seltsame weiße Licht fiel ihr wieder ein. Ja, so mußte es gewesen sein! Die Orion war irgendeiner Strahlung begegnet, die die Crew außer Gefecht gesetzt hatte. Doch jemand hatte sie gerettet und sie alle zurück zur Erde gebracht, in ein Krankenhaus.
Da sind wir ja gerade noch davongekommen. Doch wo waren die anderen?
Helga versuchte, sich aufzusetzen, um sich in dem Raum umzusehen. Es ging nicht, sie war mit irgendwelchen Riemen am Bett festgeschnallt.
Was zum... "Versuchen Sie's erst gar nicht. Ich hatte auch keinen Erfolg damit", kam von rechts Tamaras Stimme.
Helga drehte den Kopf - wenigstens das ging.
Im Bett neben ihr lag der GSD-Leutnant, ebenfalls festgeschnallt. Helga runzelte die Stirn. An Tamaras Hals und Kinn zeigte sich eine grünliche Hautverfärbung.
"Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?" wollte sie wissen, "Sie sind ganz grün."
"Was sagen Sie da?"
Erschrocken starrte Tamara sie an.
"Ich bin grün?"
Helga nickte.
"Am Kinn und am Hals. Sieht nicht aus, als hätten sie sich irgendwo gestoßen. Richtig giftgrün."
"Besten Dank für die ausführliche Beschreibung."
"Das ist noch nicht alles. Haben Sie nicht eigentlich grüne Augen?"
"Ja, wieso?" fragte Tamara mißtrauisch.
"Jetzt sind sie hellblau, mit einem dunklen Rand. Sieht richtig gruselig aus. Nichts für ungut, aber so, wie Sie jetzt aussehen, möchte ich Ihnen nicht im Dunkeln begegnen."
Helga zögerte kurz.
"Ist... ist bei mir auch was in der Art zu sehen?", fragte sie.
"Ich sehe nichts."
Die beiden Frauen wandten sich voneinander ab und starrten schweigend die Decke an.
"Tamara?"
"Hm?"
"Was ist hier los?"
Tamara seufzte.
"Ich habe keine Ahnung", sagte sie, "aber bevor Sie aufgewacht sind, waren zwei Typen in weißen Kitteln hier drin. Wissenschaftler, nehme ich an."
"Und? Nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!"
"Na ja, die haben uns als 'Versuchsobjekte Jagellovsk und Legrelle' bezeichnet."
"Sie haben verstanden, was die gesagt haben?" bohrte Helga nach.
Tamara nickte.
"Ja."
"Dann müssen es Menschen sein."
"Scheint so."
"Und sonst haben die nichts gesagt?"
Der GSD-Leutnant überlegte. Sollte sie Helga erzählen, was sie sonst noch wußte? Einer der zwei Wissenschaftler war offenbar neu hier, denn er hatte eine Menge Fragen gestellt. Und Tamara, die so getan hatte, als würde sie schlafen, hatte alle Antworten gehört.
"Also, das ist so: wir beide werden hier als Versuchskaninchen verwendet. Die haben uns außerirdische DNS eingepflanzt, und jetzt beobachten sie, wie wir uns verändern. Transformation nennen sie das. Bei uns haben sie's fast gleichzeitig gemacht, um die Wirkung auf verschiedene Individuen zu beobachten. Bei mir hat's schon angefangen, das sehen Sie ja."
"Und wie sehen wir aus, wenn diese - Transformation beendet ist?" "Ich weiß nicht."
Darüber hatten die Wissenschaftler nichts gesagt. Der ältere hatte nur gemeint, er würde es seinem jungen Kollegen gleich zeigen.
Helga kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum.
"Na, das ist ja eine schöne Geschichte. Wo sind überhaupt die anderen? Ich meine, Cliff und Atan und Mario und Hasso. Glauben Sie, die haben sie auch erwischt?"
"Wahrscheinlich, sonst hätten die uns doch schon längst hier rausgeholt", meinte Tamara.
Jetzt seufzte auch Helga.
"Daß sowas immer nur uns passiert..."
"Wir müssen hier raus."
Tamara begann, an ihren Riemen zu zerren. Es nützte nichts, sie war nicht stark genug, um sie zu zerreißen. Sie biß sich auf die Unterlippe. Wenn sie nur ein Messer hätte, dann könnte sie die Riemen zerschneiden.
Sie machte sich große Sorgen um die anderen, besonders um Cliff. Der GSD-Leutnant hob den Kopf und sah sich um, so weit es ging. Da, neben dem Bett direkt gegenüber stand ein Tischchen mit chirurgischen Instrumenten. Vielleicht hatte sie ja Glück und es war ein Skalpell dabei. Doch selbst wenn, wie sollte sie da rankommen?
Neugierig beobachtete Helga sie.
"Was haben Sie vor?"
"Ich weiß nicht."
Tamara sah Helga an. Und plötzlich hatte sie eine Idee.
"Stören Sie mich nicht beim Nachdenken. Ist doch klar, daß ich uns hier rausholen muß. Cliff und die anderen sitzen wahrscheinlich genauso in der Tinte, wie wir. Und in Ihrem hübschen Köpfchen steckt ja leider nicht besonders viel drin."
"Was? Wie bitte war das?"
Verständnislos starrte Helga sie an.
"Sie haben schon richtig gehört", fuhr Tamara fort, "ich halte Sie schlicht und ergreifend für dämlich. Dämlich genug, um nicht zu bemerken, wie ich Ihnen Cliff vor der Nase weggeschnappt habe."
"Also hören Sie mal, das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!" rief Helga empört.
Sie hatte begriffen: Tamara fing einen Streit an, um die Wissenschaftler auf sie beide aufmerksam zu machen. Vielleicht ergab sich eine Fluchtmöglichkeit, wenn sie versuchten, die zwei Streithähne zu trennen.
"Sie müssen reden! Sie sind doch genauso blöd, wie Sie blond sind!"
"Was soll das jetzt wieder heißen?"
"Daß Sie Cliff schon längst durchschaut hätten, wenn Sie nicht so blöd wären. Der spielt doch nur mit Ihnen", trumpfte Helga auf.
"Blöde Kuh!"
"Dumme Ziege!"
So ging es noch eine Weile hin und her, bis dann zwei Männer im weißen Kitteln herein kamen, um für Ruhe zu sorgen. Die beiden sahen auch auf den zweiten Blick aus wie Menschen, der eine schon etwas älter und untersetzt, der andere etwa so alt wie Cliff, groß und dürr. Der ältere machte Tamara los, um sie zu einem anderen Bett zu bringen, während der andere Helga im Auge behielt.
Die beiden Frauen gifteten sich weiterhin an. Tamara sah sich unauffällig um. In dem Raum standen acht Betten, jeweils vier nebeneinander an gegenüberliegenden Wänden. In den beiden anderen Wänden waren Türen mit Kameras darüber. Tamara überlegte kurz, ob sie nicht versuchen sollte, die zwei Männer zu überwältigen, doch der Wissenschaftler hielt sie eisern fest. Keine Chance, sich loszureißen. Und dann waren da noch die Kameras. Unbemerkt würden sie und Helga hier wohl nicht rauskommen - oder doch?
Der GSD-Leutnant fluchte innerlich. Wenn sie ihren Strahler hätte, wäre das alles kein Problem, doch die Waffen waren ihnen natürlich abgenommen worden.
Jetzt konzentrier' dich erstmal darauf, irgendwas messerähnliches in die Finger zu kriegen, ermahnte sie sich. Alles andere hatte Zeit bis später.
Sie hatte Glück, die Wissenschaftler brachten sie zu dem Bett neben dem Tischchen und es gelang ihr, unbemerkt ein Skalpell in den rechten Ärmel zu stecken, bevor sie wieder festgeschnallt wurde.
Kopfschüttelnd verließen die beiden Männer den Raum.
"Frauen!" murmelte einer von ihnen.
"Eigentlich schade", meinte der andere, "die kleine dunkle hat ein hübsches Gesicht."
"Aha, da haben Sie's!" spielte Helga ihre Rolle weiter.
Tamara schnaubte nur abfällig. Sie wartete eine Weile. Sie hatte einen Plan, doch der würde nur funktionieren, wenn sie recht hatte, was die Kameras betraf.
Kameras hatten normalerweise nur einen Sinn, wenn jemand vor einem Monitor saß und beobachtete, was sie aufzeichneten. In diesem Fall schienen das die beiden Wissenschaftler zu sein. Sie hoffte, daß es wirklich nur zwei waren, denn sonst würde ihr Plan nicht funktionieren.
Der sah so aus, daß Helga die Männer ablenken sollte, während Tamara sich befreite. Denn wenn einer der beiden das sah, würde er natürlich sofort Alarm geben. Sobald Tamara frei war, würde sie die beiden überwältigen, Helga losmachen und mit ihr verschwinden.
Das Ganze hatte nur einen Haken: die Kameras übertrugen möglicherweise auch den Ton, und wenn sie und Helga die Fremden verstanden, dann verstanden die womöglich auch sie beide. Wie sollte sie Helga also über ihren Plan informieren, ohne ihn zu verraten?
"He!" rief sie, "Sie da drüben!"
"Was ist denn jetzt schon wieder?"
"Machen Sie gefälligst nicht solchen Krach!"
Tamara legte eine besondere Betonung auf das letzte Wort und hoffte, daß Helga begriff, daß sie irgendwelchen Krach machen sollte.
Doch die sah erstmal reichlich verständnislos drein.
"Wie bitte? Ich mach'... also, jetzt reicht's mir aber endgültig!"
Plötzlich ging ihr ein Licht auf und sie fing an zu zetern wie ein Rohrspatz.
"Das ist doch wohl das letzte! Immer müssen Sie auf mir rumhacken! Entschuldigen Sie, daß ich atme!!"
Tamara grinste zufrieden.
Das ist ja die reinste Gedankenübertragung, dachte sie zufrieden und hielt ihr Skalpell bereit, während Helga einen oscarverdächtigen Tobsuchtsanfall hinlegte. Wenn die beiden Typen herein kamen, mußte alles schnell gehen.
"Ist jetzt hier bald Ruhe!" rief jemand vom Eingang her.
"Schafft mir endlich dieses blonde Gift vom Hals!" schrie Helga.
Tamara begann, den Riemen an ihrem rechten Handgelenk zu zerschneiden.
Die zwei im weißen Kittel standen etwas ratlos vor Helga. "Ist das normal?" fragte der jüngere irritiert.

"Eigentlich nicht."
Der ältere kratzte sich hinterm Ohr.
"Vielleicht sollten wir sie in einen anderen Raum bringen."
Mittlerweile hatte Tamara sich unbemerkt von den beiden Riemen um ihre Handgelenke befreit und machte sich an denen um ihre Beine zu schaffen.
Genau in dem Moment, in dem sie vorsichtig vom Bett glitt, drehte sich der jüngere Mann zu ihr um.
"He!" entfuhr es ihm.
Der GSD-Leutnant stürmte auf ihn los und setzte ihn mit einem gezielten Handkantenschlag außer Gefecht.
Der andere wollte zur Tür laufen, doch mit einem Hechtsprung riß Tamara ihn zu Boden. Er schlug hart mit dem Kopf auf. Rasch vergewisserte sie sich, daß er nur bewußtlos war.
"Ich würde Ihnen ja gerne applaudieren," ließ sich Helga vernehmen, "aber mir sind, wie man so schön sagt, die Hände gebunden."
Schnell befreite Tamara sie.
"Und was jetzt?"
"Helfen Sie mir, die beiden auf die Betten zu legen", meinte der GSD-Leutnant, "wir schnallen sie fest und knebeln sie. Soviel ich vorher mitgekriegt habe, arbeiten die hier in Schichten. Ich weiß nicht, wann Schichtwechsel ist, aber bis dahin sollten wir hier möglichst weit weg sein."
Helga nickte.
"Wir sollten zusehen, daß wir uns andere Kleidung besorgen", schlug sie vor, "wenn wir die Bordanzüge anbehalten, fangen die uns doch sofort wieder ein."
"Da merkt man mal wieder, daß eben doch was in Ihrem hübschen Köpfchen steckt. Wie schnell Sie das vorhin mit dem Krach begriffen haben..."
Helga lachte.
"Tja, ich bin eben nicht auf den Kopf gefallen!"

Tamara hatte tatsächlich recht gehabt: eine der Türen führte zu einem Überwachungsraum - einem leeren Überwachungsraum. Gleich nebenan war ein Umkleideraum, ebenfalls mit zwei Türen. Die zweite führte auf einen Gang hinaus, wie Helga mit einem raschen Blick feststellte.
Währenddessen benutzte Tamara das Skalpell, das sie mitgenommen hatte, um einen der acht Spinde zu knacken.
"Na komm' schon!" knurrte sie.
Es knackst leise und die Tür schwang langsam auf. Schuhe, eine Jacke, ein weißer Kittel und Ersatzkleidung.
"Fangen Sie!"
Der GSD-Leutnant warf Helga einen hellblauen Overall zu und nahm sich den nächsten Spind vor.
Wenig später stand sie in weißer Bluse und hellgrünem Rock vor dem Spiegel und musterte prüfend ihr Gesicht. Ihre Frisur hatte sie verändert, genau wie Helga, und mit hellblauen Augen sah sie ganz anders aus, als sonst. Nur die Hautverfärbung...
"Wenn ich so rausgehe, brauchen die keine fünf Minuten, um uns wieder einzufangen", meinte sie niedergeschlagen.
"Warten Sie!"
Fieberhaft durchwühlte Helga den Spind, aus dem Tamara Rock und Bluse hatte.
"Ich hab's."
Triumphierend schwenkte sie eine flache Dose.
"Und was ist das?" fragte Tamara.
"Wenn wir Glück haben, Puder. Keine Frau, die was auf sich hält, verzichtet darauf, sich ab und zu mal die Nase zu pudern."
"Und Sie denken, so'n bißchen Puder reicht?"
"Wir werden ja sehen. Machen Sie die Augen zu."

"Fertig."
Zufrieden betrachtete Helga ihr Werk.
"Ist fast nichts mehr zu sehen", versicherte sie.
Tamara warf einen skeptischen Blick in den Spiegel und nickte. "Den Puder stecken Sie besser ein", meinte sie, "bei Ihnen fängt's bestimmt auch bald an."
"Na, das sind ja heitere Aussichten."
Helga schob die Dose ein und Tamara ließ das Skalpell in ihrer Rocktasche verschwinden.
Vorsichtig öffneten die beiden die Tür und spähten auf den Gang hinaus.
Etwas weiter vorne stand eine Gruppe um einen Mann im weißen Kittel geschart.
Und Tamara machte große Augen.
"Helga?" flüsterte sie aufgeregt.
"Ja?"
"Würden Sie nicht auch sagen, daß die da vorne eigentlich außer Hörweite sind?"
"Eigentlich schon", stimmte Helga zu.
"Warum kann ich dann jedes Wort von dem verstehen, was dieser Typ da gerade sagt?"
Helga hob sie Schultern.
"Vielleicht hat das was mit dieser Transformation zu tun. Was sagt er denn?"
"Daß er die Leute gleich zu den Kältetanks führen wird."
"Eine Führung? Dann sollten wir uns anschließen, vielleicht finden wir ja jemand von den anderen."
Tamara nickte.
"Gute Idee."
Die beiden sahen sich schnell um und schlossen sich der Gruppe an.
Es ging eine Treppe hinunter ins nächsttiefere Stockwerk und dann einen Gang entlang.
Plötzlich griff Helga nach Tamaras Arm.
"Ich glaube, jetzt geht's bei mir auch los", flüsterte sie," bin ich schon grün?"
"Nur ein bißchen am Kinn."
"Gut, ich tu' so, als ob mir übel wäre. In fünf Minuten bin ich wieder da."
Tamara nickte.
"Ist gut."

Die Hand auf Mund und Kinn gepreßt eilte Helga den Weg zurück, den die Gruppe gekommen war. So eilig hatte sie es, daß sie beinahe in jemanden hineingerannt wäre.
"Entschuldigen Sie", sagte sie und sah auf.
Vor ihr stand ein älterer Mann im weißen Kittel. Er schenkte ihr einen argwöhnischen Blick.
"Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte er forschend.
"Doch, doch", versicherte Helga eilig, "mir ist nur plötzlich übel geworden. Ich wollte nur ein bißchen an die frische Luft."
"Da vorne links und die Treppe runter, dann kommen Sie genau zum Ausgang."
"Vielen Dank."
Helga ging in die angegebene Richtung. An der Treppe sah sie sich um. Der Mann war fort. Also ging sie nicht nach unten, sondern nach oben. Sie wollte zu dem Umkleideraum zurück, in dem sie vorher mit Tamara gewesen war.
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