von T.J. Bornemann


Vom lauen Luftzug des geöffneten Fensters flackerte die Flamme der einsam im Raum stehenden Kerze plötzlich und verwandelte das Zimmer kurzzeitig in eine Leinwand von tanzenden Schatten, die so wirkten, als wollten sie ein schauriges Märchen erzählen. Durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen ließ sich das fahle Dämmerlicht des nahenden Morgengrauens bisher nur erahnen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und ließ ihn frösteln. Im Sitzen zog er die Knie an sein Kinn und umschlang sie mit seinem linken Arm. Wo er gerade noch leeren Blickes auf die gegenüberliegende Wand gestarrt hatte, wanderten seine Augen nun unwillkürlich zu dem großen, schwarzen Flügel, der fast verlassen mitten im Raum stand.

Manchmal spürte er einfach nur eine tiefe Leere, wenn er das massige, hölzerne Stück betrachtete, manchmal abgrundtiefen Haß, manchmal Selbstmitleid, doch heute Nacht überkam ihn ein Gefühl von Traurigkeit und Sehnsucht. Wenn er die Augen schloß, konnte er fast den Klang vernehmen, den er einst so unbeschwert dem Instrument hatte entlocken können; die Leichtigkeit der Töne, wenn die Finger seiner rechten Hand über die Tasten tanzten oder die Melancholie der Baßsaiten, wenn Pedalfuß und linke Hand in völligem Einklang standen. Er bemerkte, wie seine Finger zuckten, so als wollten sie unsichtbare Tasten greifen, und öffnete die Augen.

Im Dämmerlicht des Kerzenscheins war der Flügel kaum erkennbar, und doch wußte er genau wie er aussah, wußte genau an welcher Stelle der Lack an der Oberkante abgesplittert war und wo der Taste des zweigestrichenen E"s eine winzige, elfenbeinerne Ecke fehlte. Eine zeitlang hatte er den Flügel mit einer Decke abgedeckt, aber für ihn hatte sich dadurch nichts verändert. Aus den Augen ist eben nicht immer gleich aus dem Sinn.

Und wie oft hatte er sich geschworen, das große Instrument abzugeben, es zu verkaufen. Einmal hatte er sogar schon eine Zeitungsannonce aufgegeben, aber dann hatte er doch allen Interessenten immer die gleiche Geschichte am Telefon erzählt: Der Flügel sei schon von einem anderen Käufer erworben worden. Auch jetzt fragte er sich wieder, warum er sich von dem Flügel nicht trennen konnte, würde er ihn doch nie wieder spielen.

In der Ferne hörte er die Glocken der nahegelegenen Kirche läuten. Im Geiste zählte er die Glockenschläge: sechs Uhr. Zeit den alltäglichen Morgenritualen nachzugehen und sich auf einen anstrengenden Arbeitstag einzustellen. Er erhob sich und ging hinüber zu dem Tisch, auf dem die Kerze noch immer ihren warmen Lichtschein verbreitete. Mit einem gezielten Atemstoß blies er die Flamme aus und beobachtete einen Moment lang, wie der rot glühende Punkt am Ende des Dochts immer kleiner wurde und schließlich erlosch.

Mit der linken Hand griff er den Morgenmantel, der über dem Stuhl am Tisch hing, zog ihn mit einer geübten Bewegung an und tappte mit nackten Füßen in das Badezimmer. Im Spiegel betrachtete er bewußt den nahezu leblos baumelnden, leeren, rechten Ärmel neben seinem Körper. Er unterdrückte das Bedürfnis, nach dem scheinbar juckenden Arm zu greifen, der nicht mehr da war, seufzte, und griff nach seiner Zahnbürste und der Zahnpastatube. Während er die weiße Paste auf den Borsten verteilte, beschloß er, die heutige Tageszeitung nach Kaufgesuchen für einen Konzertflügel durchzusehen.

Ende



Inspiriert von der Folge "Tiefe Wunden" der Krimireihe "Polizeiruf 110" (Erstausstrahlung 19.1.03 © ARD)
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